Unser Geschäft ist zu den üblichen Zeiten geöffnet, noch. Das ist nicht mehr selbstverständlich. In direkter Nachbarschaft haben zwei alteingesessene Bäcker offen und ein Spezialgeschäft für Käse. Das Japanrestaurant gegenüber bietet „Sushi to go“ an, die Eisdiele verkauft am Tresen und der Optiker hat auf. Das war‘s. Die Restaurants und Cafés haben geschlossen und die anderen Geschäfte auch. Bringe ich Pakete zum DHL-Shop, einem türkischen Kiosk, gehe ich durch eine Geisterstadt. Auf der Ehrenstraße, eine der Haupteinkaufsstraßen Kölns fuhr gestern ein junger Mann auf einem E-Scooter in Zickzack-Linien die Straße rauf und runter. Lustig, was alles geht, in Zeiten von Corona. Flanierende Menschen fehlen. Hupende und drängelnde Autos fehlen. Die Radfahrer haben jetzt genug Platz. Ebenso die DHL- und UPS-Wagen. Der Puls der Stadt schlägt deutlich langsamer.
Abends fahre ich durch fast menschenleere Straßen nach Hause, vorbei an dunklen Geschäften und Cafés. Selbst die sonst grell erleuchtete Sportsbar schläft. Ein wenig werde ich an den Roman „Die Straße“ von Cormac McCarthy erinnert. Vater und Sohn wandern in Richtung Küste durch ein verbranntes Amerika auf der Suche nach Lebensraum, Essbarem und Mitmenschen. Eine düstere Parabel, die in ihrer Endzeitstimmung an Samuel Beckett erinnert. An der Ampel warte ich mit meinem Rad bei Rot, obwohl kein Auto kommt. Dröhnende Stille, ein Leben wie in einer Dystopie, die noch vor wenigen Tagen nicht vorstellbar war.
In meiner Nachbarschaft wird jeden Abend pünktlich um 21 Uhr geklatscht. Der Applaus gilt den Menschen, die in Krankenhäusern und Supermärkten arbeiten oder an anderer Stelle die Grundversorgung aufrechterhalten. Ich stelle mich mit meiner Tochter ans offene Fenster und klatsche in den großen Innenhof, in dem viele Fenster geöffnet sind. Eine kleine Brassband spielt spontan „In unsrem Veedel“ von den Bläck Fööss. Zusammenhalten, ein Moment von anrührender Gemeinsamkeit.
Im Laden führen Marc Saffari und ich viele Gespräche. Jede und jeder bringt seine eigene Geschichte mit, manche Existenz ist bedroht. Grenzen fallen oder weichen auf, es entsteht Nähe. Und alle freuen sich über den Tee und dass wir geöffnet haben. „Ich habe gerade zehn Zitronen gekauft“, sagt eine unsere Stammkundinnen, „kein Hamsterkauf, ich mache Zitronengelee, habe ja Zeit jetzt.“ Sie arbeitet beim Film und im Moment wird nicht gedreht.
Es ist Samstagnachmittag. Normalerweise kommen um diese Zeit ständig neue Kunden ins Geschäft. Vormittags und mittags kamen sie, doch jetzt wird es still. Marc und ich trinken Yiwuh Pu Erh. Süße und fein perlende Herbe. Das passt und besänftigt unsere Nerven. Arbeiten, Zuhören, die eigenen Gedanken verarbeiten – die Tage sind anstrengender als sonst und an ihrem Ende bin ich oft traurig und erschöpft. Aber wir sind uns einig, wir wollen öffnen und für alle da sein, die kommen, solange man uns lässt. Schon jetzt bieten wir unser gesamtes Sortiment aber auch über unseren Online-Shop an. Auf ihren Tee müssen Sie also in keinem Fall verzichten.
Mein Freund Dirk schreibt eine Petition für seine Musikerkollegen, man möge verstärkt deren Musik über das Portal Bandcamp herunterladen. Jeder Euro pro Download zählt und geht direkt an die Musiker; gelebte Solidarität.
Unser Geschäft ist wie ein langer Schlauch, Abstand halten ist hier kein Problem. Das machen alle von selbst. Die Theke verschafft uns den nötigen Sicherheitsabstand und das Waschbecken zum Händewaschen ist gleich neben der Theke.
Jeden Tag spreche ich mit meinem Freund Jiri Melzer und mit Marc Saffari über neue Tees und die neue Ernte. Wir schauen auf den Tag, hier und jetzt. Wir haben eine Vision für Tee und für das Morgen. Dafür stehen wir jeden Tag auf und sind wir da. Es ist unser Weg zur Küste.
Das erste Licht kommt in diesem Teejahr 2020 aus der kleinen Stadt Sanxia, nahe Taipeh in Taiwan. Es ist der Grüntee unseres vertrauten Teebauern, Sanxia Bi Luo Chun. Schon der Duft aus der Schale erinnert an eine helle, leicht und kühle Sommerbrise. Fein und elegant ist die Struktur des sehr frischen Grüntees. Das Blatt ist wundervoll in Spiralen gedreht. Schon die Blätter sehen aus als würden sie gleich tanzen. Dann schmecke ich Kühle und eine feine Würze. Der Bi Luo Chun ist leicht und elegant. Und plötzlich erscheint eine Fruchtigkeit am Gaumen, die an Himbeeren und Pfirsich erinnert. Ein wundervoller großer Grüntee der wie reines Licht in mich eindringt und mich erfreut.
Licht aus Taiwan: Frühlingsernte 2020 Sanxia Bi Luo Chun
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